Gradientenfaktoren

Das Mass der Übersättigung

Gewebe bis zum M-Wert aufzusättigen scheint keine gute Idee zu sein, und auch bei Werten  darunter kommen Fälle von DCS bereits vor. Wie viel Abstand wollen wir also in welchem Moment des Tauchgangs zu diesen Werten halten?

Gradientenfaktoren sind Modifikationen des Bühlmann-Modells, mit denen man versucht, das Modell neueren Erkenntnissen und Theorien anzupassen. Sie erzeugen eine Art „Abstand“ zu den M-Werten, aber gleichzeitig auch eine deutliche Modifikation: Man verändert das Modell, ohne die Konsequenzen tatsächlich empirisch überprüft zu haben. Deshalb ist ein wenig Vorsicht angebracht. Im Bereich der Gradientenfaktoren sind die Unsicherheiten ziemlich groß, und tatsächlich kann es sein, dass nicht jede dieser Modifikationen einen realen Sicherheitsgewinn erbringt!

Gradienten

Aber mal ganz von vorne: Was sind diese Gradientenfaktoren?

Wir haben im Kapitel über M-Werte diese Grafik mit der M-Linie kennengelernt. Wenn man bis an diese Grenze auftaucht, erreicht das Gewebe eine Übersättigung, die seinem M-Wert entspricht.

Wenn man nicht bis zu dieser Linie auftaucht, sondern schon vorher stoppt, hält man eine Art „Sicherheitsabstand“ zu diesem vielleicht zu riskantem Wert ein. Man stoppt, wenn ein bestimmter Prozentsatz des M-Wertes erreicht ist, also bei einer geringeren Übersättigung.

Dabei stellen sich mindestens zwei Fragen: Wann möchte ich beim Aufstieg anhalten, also welche Übersättigung der schnelleren Gewebe toleriere ich in der Tiefe? Und mit welchem Sicherheitsabstand möchte ich die Oberfläche erreichen?

Diese Abstände werden durch den Gradientenfaktor Low (GF Low) und den Gradientenfaktor High (GF High) definiert. Diese GFs meinen den Prozentsatz des M-Wertes, zu dem man zum jeweiligen Zeitpunkt gesättigt ist. Der GF Low bestimmt die Übersättigung bei Erreichen des ersten Stopps, der GF High die Übersättigung bei Erreichen der Oberfläche. Doch das jetzt mal Schritt für Schritt.

Gradienten und M-Werte

Die erste Entscheidung ist die, wie weit man beim Aufstieg das jeweilige Führungsgewebe übersättigen will. Ein Stopp unterhalb der M-Linie kann durch einen Prozentsatz des M-Wertes bestimmt werden: Wie nah traue ich mich an die M-Linie ran?

Die Idee dabei ist, dass bei tieferen Stopps möglicherweise die Blasenbildung reduziert wird. Dabei denkt manch einer an eine Sprudelflasche, an Boyle, und später auch an Blasenkeime, Mikroblasen, und den Einfluss des menschlichen Metabolismus auf das Ganze. Wie viel sich davon nachweisen lässt, werden wir in dem Kapitel über Tiefere Stopps diskutieren.

Dieser Wert, der Abstand zur M-Linie beim ersten Stopp, ist der Gradient Factor (GF) Low. Er wird üblicherweise niedriger gewählt als der Gradient Factor High.

Dabei müssen wir aber bedenken: Die M-Werte, die wir hier modifizieren, sind so gewählt, dass in der Tiefe ein höherer Überdruck „erlaubt“ ist als an der Oberfläche. Der erste Teil unserer Modifizierung setzt also nur diese Annahme zurück. Und wie die M-Werte für jedes Gewebe unterschiedlich sind – schnellere Gewebe „vertragen“ mehr – so sind natürlich auch unsere modifizierten M-Linien pro Gewebe anders. Deshalb können wir sie nur in Prozent ausdrücken, nicht in absoluten Werten – die Referenz ist das Bühlmann-Modell mit all seinen Vorannahmen.

Was hier extrem wichtig ist: Ein niedrigerer Gradient Factor Low macht den Tauchgang nicht automatisch konservativer, denn die dadurch eventuell verursachten tieferen ersten Stopps führen zu einem längeren Aufenthalt in nennenswerten Tiefen, und damit möglicherweise zu einer weiteren Aufsättigung mittlerer und langsamerer Gewebe. Immerhin ist es üblicherweise eins der schnellen Gewebe, das hier gerade Führungsgewebe ist, während mittlere bis langsame Gewebe noch gar nicht entsättigen, und möglicherweise sogar weiter Inertgas aufnehmen. Die Entscheidung, was man für „konservativer“ oder „sicherer“ hält, ist also nicht einfach mit einem „alles möglichst niedrig“ erledigt….

Der zweite Wert, der Gradient Factor High, bestimmt den Abstand zur M-Linie bei Erreichen der Oberfläche. Hier ist klar: Je niedriger dieser Wert, umso weiter ist man beim Auftauchen schon entsättigt, umso niedriger das Risiko. Ein niedrigerer Wert als GF High ist daher IMMER sicherer. Meistens ist das Führungsgewebe jetzt auch ein anderes als zu dem Zeitpunkt des ersten Stopps.
Je niedriger der GF High, umso länger wird aber die Deko. Wir warten noch unter Wasser eine gewisse Entsättigung ab, und diese Zeit kommt zum eigentlichen Tauchgang dazu. An irgendeinem Punkt bestimmt die Frage, wie lange wir bleiben wollen, den GF High – und damit das Maß an Risiko, das in Kauf zu nehmen wir bereit sind.

GF High

Verbindet man die beiden Punkte, den GF Low beim Aufstieg und den GF High an der Oberfläche, erhält man eine modifizierte M-Linie. Die Dekostopps bewegen sich nun entlang dieser, nicht mehr entlang der „originalen“ M-Linie, und bleiben damit in einem gewissen Sicherheitsabstand zum „riskanten“ Bereich.

 

Neue M-Linie mit Gradientenfaktoren

Welche Gradienten sind die Besten?

Grenzwerte der Übersättigung

Setzt drei Tek-Taucher:innen zusammen an einen Tisch und lasst sie planen, mit welchen Gradientenfaktoren sie ihren Tauchgang unternehmen wollen, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie vor lauter Diskussionen lange nicht zum Tauchen kommen. Was kein Wunder ist: Letzten Endes handelt es sich hier an vielen Punkten um eine persönliche Entscheidung, in die nicht nur echte harte Erkenntnisse, sondern auch so etwas wie Ahnungen, Wohlbefinden und – na ja, irgendetwas jenseits des Rationalen hineinspielt. Um diese Entscheidung einigermaßen nachvollziehbar zu machen, möchten wir hier einige Hintergrundinformationen vermitteln.

Was weiß man?

Der GF High beschreibt die Risikobereitschaft. Da es inzwischen Daten aus tatsächlich durchgeführten Tauchgängen und Hinweise auf die DCS-Inzidenz bei verschiedenen Gradientenfaktoren bei Erreichen der Oberfläche gibt kann man daraus durchaus einige Ideen ableiten.

Einen Hinweis bekommt man aus der DAN Datenbank: Die dort ausgewerteten DCS-Fälle waren nur sehr selten das Resultat eines Überschreitens der Grenzwerte. Die allermeisten Fälle traten nach Tauchgängen auf, die mit maximalen Gradienten von 70-90 einher gingen – also dem, was durchaus als sicher gilt.

Das wird nun ganz sicher nicht bedeuten, dass Tauchgänge, die mit einer höheren Sättigung enden, sicherer seien: Die niedrigeren Zahlen hier verdanken sich der Tatsache, dass nur sehr selten Tauchgänge in diesen Bereichen durchgeführt werden. Interessant ist aber, in welchem Ausmaß sich das Risiko unterhalb des maximalen Gradienten (der wiederum in vielen Fällen der Oberflächen-Gradient, und damit durch GF High bestimmt ist) von 70 reduziert. In diesem Bereich – und oft sogar noch darunter – finden ziemlich sicher sehr viele weltweit durchgeführte Tauchgänge statt, unter den DCS-Fällen tauchen sie aber nur in sehr geringem Ausmaß auf. Leider liegen die Vergleichsdaten zu den Gradienten aller insgesamt bekannter Tauchgänge nicht vor, die hier vorgebrachte Schlussfolgerung enthält also eine Ungewissheit, aber die Übung kann ja jede:r mal mit den eigenen Tauchgängen machen: Mit welchem Gradienten tauchst du denn normalerweise auf? Was verändert sich auf einer Tauchsafari oder sonstigem No-Limit-Tauchen?
Wenn man gerne möglichst sicher sein möchte, aber auch nicht unendlich lang unter Wasser bleiben will, kann ein GF High von 70 eine gute Wahl sein.  Einen GF High von 80 einzustellen, und dann aber bei guten Bedingungen und ausreichend Gas einfach noch ein wenig länger im Flachen zu bleiben, kann natürlich auch eine passable Option sein.
Nur sehr wenige Taucher:innen entscheiden sich bei einstellbaren GF High für Werte über 80, solange man nicht mit einem Problem oder sogar Notfall unter Wasser zu tun hat. Ein niedrigerer GF High führt zu immer längeren Stopps, da muss man überlegen, wie lange man bereit ist zu warten – und wie man das ganz persönliche Risiko einschätzt.

Viel komplizierter als die Entscheidung für einen bestimmten GF High ist die für den GF Low. Ein relativ pragmatischer Ansatz dazu ist aufgekommen, seitdem Deep Stopps mehr und mehr in Verruf geraten sind (mehr dazu in einem eigenen Kapitel):

Der „originale“ M-Wert liefert ja in der Tiefe einen höheren Inertgas-Druck als der, der bei Erreichen der Oberfläche akzeptabel wäre. Anders gesagt, die Steigungen der M-Wert Linien im nun schon mehrfach gezeigten Diagramm mit Umgebungsdruck gegen Inertgas-Druck sind im Durschnitt etwas größer als eins. Das ist historisch im Bühlmann-Modell so angelegt, aber David Doolette als einer der heute aktivsten Dekompressions-Forscher argumentiert, dass dieses Verhalten des Modells vielleicht nicht ganz dem aktuellen Stand der Erkenntnis entspricht. Und wir neigen dazu, ihm ein Stück weit zuzustimmen. Alleine schon, weil tiefere Tauchgänge ganz grundsätzlich mit höheren Belastungen einher gehen. Um dieses Modell-Verhalten also auszugleichen, liefert ein GF Low von ca. 83% des GF High eine Dekompression, bei der Werte, die der Übersättigung an der Oberfläche entsprechen, auch in größeren Tiefen die Grenze darstellen. Diese Idee ist sicherlich weder mathematisch exakt, noch ist es bewiesen, dass sie einen grundsätzlichen Vorteil bietet. Aber: Wenn man nun den einigermaßen risikoarmen GF High 70 mit einem GF Low 55 paart, kann das eine ganz gute Idee sein.
Aber Achtung, noch einmal: alles das ist natürlich keine dogmatische Handlungsanleitung, sondern ein Denkansatz. Wenn man die Entscheidung über die Gradientenfaktoren nicht selbst treffen möchte, kann man einfach so was wie „Konservativismus 1 oder 2“ am eigenen Computer einstellen und dem folgen – niemand MUSS einen Bühlmann Algorithmus mit frei gewählten Gradientenfaktoren tauchen. Es lohnt sich allerdings in jedem Fall, die Hintergründe so weit wie hier ausgeführt zu verstehen, denn ganz ehrlich, auch manche Voreinstellung an manchem Tauchcomputer ist gar nicht so arg konservativ. Es mag viele Situationen geben, in denen wir für uns selbst entscheiden wollen, doch ein wenig weiter von den Grenzen weg zu bleiben als andere das tun, oder wir selbst an anderen Tagen.

Alle Gewebe gleichzeitig im Blick

Subsurface Heatmaps

Wenn man im Blick behalten möchte, welche Gewebe zu jedem Zeitpunkt des Tauchgangs sättigen, welche entsättigen und wie nah sie an den Grenzwerten sind, kann man das in einer sehr einfachen Form ablesen: In den Heatmaps, die Subsurface als Darstellungsform gewählt hat.
Für eine grundlegende Einführung in Subsurface gibt es hier eine Zusammenfassung: Tauchgänge planen mit subsurface

Nehmen wir einen beliebigen Tauchgang. Wenn wir den bunten Streifen unten, die Heatmap, ganz genau anschauen, wird klar, dass hier 16 unterschiedlich farbige Linien übereinanderliegen. Diese Linien sind die 16 Gewebe (Kompartimente) des Bühlmann Modells: Oben das schnellste, unten das langsamste Gewebe.

Alle Gewebe sättigen während des Tauchgangs auf. Dieser Prozess ist in unterschiedlichen Blautönen dargestellt, je heller, umso weiter ist das Gewebe von der Sättigung entfernt. Lila bedeutet eine fast vollständige, schwarz eine vollständige Sättigung. Diese misst sich natürlich immer am Umgebungsdruck: Geht man tiefer, entfernt man sich vom Zustand der Sättigung und sättigt dann langsam auf, jedes Gewebe in einer unterschiedlichen Zeit. Taucht man auf, wird aus dem aktuellen Sättigungszustand des Gewebes ein Überdruck, die Entsättigung setzt ein.

Die Entsättigung wird in Ampelfarben dargestellt: Grün bedeutet, dass der maximal erlaubte Wert – der M-Wert – noch sehr weit entfernt ist, bei gelb kommt er näher, im orangenen Bereich werden 60-80% des M-Werts erreicht, und rot steht für den M-Wert. Wird die Heatmap weiß, ist diese Grenze überschritten worden.

Man kann nun sehen, welche Gewebe genau zu welchem Zeitpunkt des Tauchgangs betroffen sind– und zwar hat man alle Gewebe auf einmal im Blick, eine Möglichkeit, die keine andere Darstellungsform so einfach bietet.

Tauchprofil 20 Minuten auf 30m
Subsurface Heatmap Legende
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner