Warum Dekotheorie?
Was passiert beim Tauchen? Sobald wir unter Wasser sind, setzen wir unseren Körper einem höheren Druck aus. Da Menschen zu 70% aus Wasser bestehen, ist das erstmal kein Problem – aber die Gase, die wir im Körper haben, reagieren auf den steigenden Druck. Den ersten Effekt, nämlich dass Gase komprimiert werden, merkt man beim Abtauchen sofort: Der „Druck auf den Ohren“ ist nichts weiter als ein winzig kleiner gasgefüllter Hohlraum, in dem sich der steigende Druck bemerkbar macht. Der zweite Effekt dauert länger: Wenn wir Gase unter höherem Druck atmen, gehen sie vermehrt in den Körper über. Und diese gelösten Gase sind genau das, was uns hier beschäftigt.
In der Dekompressionstheorie geht es darum, wie sich Inertgase – also Gase, die vom Körper nicht benutzt werden und nicht chemisch reagieren – im menschlichen Körper verhalten, wann sie möglicherweise Schaden anrichten, und wie sie möglichst sanft wieder abgegeben werden können. Vor allem geht es dabei um Stickstoff, manchmal kommt aber auch Helium ins Spiel. Diese Gase können am Ende des Tauchgangs, wenn man aufsteigt und der Druck nachlässt, Blasen formen und eine Krankheit verursachen, die fast nur Taucher:innen kennen: Die „bends“, Taucherflöhe, Dekokrankheit, Decompression Sickness (DCS). Diese Erkrankung ist sehr selten, aber irgendwie beunruhigend: Niemand kann so genau sagen, wann und warum man sie bekommt, aber irgendwie ist das gruselig mit den Blasen und so….
Um zu verstehen, welche Relevanz Diskussionen um das beste Dekomodell haben, möchten wir zunächst einmal einen Blick auf das statistische Risiko werfen: Wie hoch oder niedrig ist das reale Risiko bei einem Tauchgang? Ist Tauchen ein „Extremsport“, oder doch eher eine relativ sanfte, eher risikoarme Beschäftigung?
Risiko DCS
Ursprünge: Wie lange kann man Arbeiter tauchen lassen?
Unser heutiges Wissen über Dekompression stammt nicht in erster Linie von Freizeittaucher:innen wie uns, sondern vom Militär und von Berufstauchern. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie man sie möglichst effizient nutzen kann, ohne dass inakzeptabel viel kaputtgeht.
Aus diesem Zusammenhang kommt auch der erste Name dieser komischen Krankheit, die nach dem Tauchen auftritt: Caissonkrankheit. Betroffen waren im 19. Jahrhundert Brückenarbeiter, die in oberflächenversorgten luftgefüllten Kästen unter Wasser an der Konstruktion arbeiteten. Für diese Arbeiten und für das Militär wurden die ersten Dekompressionsmodelle entwickelt, auf die auch heute noch aufgebaut wird.
Mehr zur Geschichte der Dekotheorie findet ihr in dem SSI Kurs Science of Diving.
Lobsterfischer als Beispiel für zu billige Arbeitskraft
Dass Menschen bei Arbeiten unter Wasser schwere Schäden erleiden, ist aber leider nicht nur Geschichte: Auch heute noch stellen Dekompressionsunfälle ein großes Risiko dar für diejenigen, die sich den Luxus sicherer Tauchprofile nicht leisten können.
Ein Beispiel dafür findet sich in Honduras – dort, wo auf den Bay Islands (Utila und Roatan) so viele Taucher:innen aus den USA und Europa tauchen lernen und Instructor werden. Die dort ansässigen Lobsterfischer, meist aus der indigenen Gruppe der Miskito, machen ihre Tauchgänge nicht zum Spaß, für sie geht es ums Überleben.
In der Saison verdient derjenige am besten, der die meisten Lobster an die Oberfläche holt. Lange Pausen und langsame Aufstiege vermindern das Einkommen, hinzu kommen fehlende Kenntnisse und das Fehlen von Tauchcomputern. Um hier etwas zu verändern, sind einige Projekte in der Region tätig – wer dort Urlaub macht, sollte vielleicht überlegen, hier etwas beizutragen.
DAN Artikel über die Situation der Lobsterfischer in Honduras von 2014
Über welches Risiko reden wir für Sporttaucher:innen heute?
Dekompressionsunfälle sind unangenehm, und natürlich versuchen wir, sie zu vermeiden. Aber wie groß ist überhaupt das Risiko? Betreiben wir eine “Extremsportart”, mit unwägbaren Gefahren behaftet, oder ist Tauchen nicht doch eher eine recht ungefährliche Freizeitbeschäftigung?
Das, was den meisten Taucher:innen Angst macht, nämlich diese Sache mit den Blasen, ist statistisch betrachtet eigentlich kein großes Ding.
Einen Eindruck davon kann man bekommen, wenn man sich die Auswertung von 947 Todesfällen beim Tauchen zwischen 1992 und 2003 anschaut, die eine Gruppe von Tauchmedizinern 2008 veröffentlicht hat.
Die ganze Studie könnt ihr hier nachlesen:
Denoble 2008: OC Recreational Diving Fatalities
Neben einigen anderen interessanten Punkten wird hier eins deutlich: DCS spielt bei den Todesfällen beim Tauchen eine sehr marginale Rolle. Unter den 947 Todesfällen beim Tauchen in diesen 20 Jahren waren nur 15 auf DCS zurückzuführen, und keiner davon war unerklärlich.
Heißt das, dass man sich mit dem Thema gar nicht beschäftigen muss? Nein, weil auch Dekompressionserkrankungen, die nicht gleich zum Tod führen, ein Problem sind. Aber vielleicht heißt es, dass ein ausreichender Gasvorrat einfach wichtiger ist als die perfekte Dekompressionsstrategie.
“Disabling injuries [die Verletzung, die zur Handlungsunfähigkeit führt], die auf DCS zurückzuführen sind, wurden in 15 Fällen bei Tauchgängen mit einer einer mittleren Tiefe von 69 m (39-76 m IQR) gefunden.
Acht Verstorbene hatten zu wenig Gas und machten Notaufstiege mit unterlassener Dekompression. Sechs tauchten an Wracks, vier waren beim Speerfischen oder Jagen und vier machten mehrere Wiederholungstauchgänge mit kurzen Oberflächenintervallen. Einem ging das Gas aus, weil der Atemregler nicht mehr funktionierte, einer bekam positiven Auftrieb, als das Ventil seines Trockentauchanzugs nicht mehr funktionierte, und einer wurde von einem aufgespießten Fisch in die Tiefe gezogen.”
Risiko Dekokrankheit
Abseits von den wenigen Todesfällen ist es natürlich immer unangenehm, wenn man sich nach dem Tauchen nicht so gut fühlt, und immer wieder kommt es auch zu schweren Erkrankungen. Das Risiko eines Tauchunfalls lohnt es sich schon ernst zu nehmen.
In diesem Kurs geht es nicht um alle Tauchunfälle, sondern nur um die Dekokrankheit, die durch Inertgase verursacht wird. Für einen Überblick darüber: Science of Diving: Tauchphysiologie
Sehr lesenswert als nach wie vor aktuellster Überblick über statistische Risiken ist die “DAN Big Data” Studie
Cialoni et al.: “Dive Risk
Factors, Gas Bubble Formation, and Decompression Illness in Recreational SCUBA Diving: Analysis of DAN Europe DSL Data Base”. Front. Psychol., 19 September 2017 https://doi.org/10.3389/fpsyg.2017.01587
Wie häufig ist DCS?
- Gängige Dekomodelle akzeptieren in etwa ein Risiko von 1:10.000 für das Auftreten von DCS Symptomen nach dem Tauchen
- DAN Datensammlung: knapp 40.000 TG, 970 Doppler-Blasenmessungen, 320 TG mit DCS Symptomen
- Doch höheres Risiko ODER höhere Motivation, die Daten weiterzugeben, wenn etwas passiert ist?
- Unbekannte Dunkelziffer, da die Zahl der Tauchgänge nur schätzbar ist
- 1:2.500-5.000 realistischer?