Tiefenrausch: Das Lehrbuchwissen

Schon im OWD, in jedem Anfängerkurs, wird etwas über den Tiefenrausch gelehrt. Dabei spielt er auf den für Anfänger empfohlenen Tiefen bis 20m eigentlich keine Rolle: Was dort zu spüren ist, kann noch nichts mit einer echten Stickstoffnarkose zu tun haben. Die Stickstoffnarkose, so der sachlichere Ausdruck für den Tiefenrausch, wird verursacht durch die hohen Stickstoffpartialdrücke (pN2), denen man unter Wasser ausgesetzt ist.

Was  ist ein Tiefenrausch?

“Wahwah”, Martini – Effekt und Taucherträgheit

Unter dem Begriff Tiefenrausch wird eine ganze Bandbreite von Dingen zusammengefasst, die von leichten Einschränkungen unter Wasser bis hin zu wirklich harten Bewusstseinsstörungen reichen. Ob das wirklich alles mit der Tiefe zu tun hat, darf man hinterfragen. Was ist alles gemeint, wenn von Tiefenrausch die Rede ist?

Tiefenrausch klingt beunruhigend, der im selben Sinn benutzte Begriff „Stickstoffnarkose“ noch viel mehr. Wer zum ersten Mal davon hört, hat üblicherweise ziemlichen Respekt davor und wartet bei den ersten tieferen Tauchgängen darauf, dass etwas ganz Besonderes passiert. Bei manchen Menschen ist das auch so: Sie fühlen sich nicht wohl, bekommen Angst und möchten wieder hoch. Andere entspannen sich, werden vielleicht sogar leicht euphorisch. Viele merken gar nichts, schauen aber ganz oft auf ihren Computer – andere achten auf gar nichts mehr. Und das setzt auf unterschiedlichen Tiefen ein.
Es gibt also nicht nur den einen Tiefenrausch, sondern vielmehr eine Bandbreite an Erscheinungsformen, die teils abrupt einsetzen, teils nahtlos ineinander übergehen.

Wenn von Tiefenrausch die Rede ist, können grob unterteilt drei verschiedene Dinge gemeint sein:

Alle werden unter Wasser dumm: Tauchreflex (eine Schutzreaktion des Körpers beim Untertauchen im Wasser, für das wir als Landlebewesen eigentlich nicht gemacht sind), Kälte, Atemarbeit, Ablenkung – unter Wasser ist man irgendwie anders. Das setzt nicht erst in der Tiefe ein, sondern kann schon auf den ersten Metern dazu beitragen, dass Dinge unter Wasser eben nicht mehr so klar und einfach sind wie an der Oberfläche.
Das ist eigentlich noch kein Tiefenrausch, wird aber manchmal auch als solcher benannt. Uns interessieren diese begleitenden Effekte hier aber weniger, wir reden von dem Effekt, den Stickstoff auf großen Tiefen hat.

Wohliger Rausch: Der Tiefenrausch ist oft gar nicht bedrohlich, sondern eher eine leichte Euphorie, alles ist easy, alles ist schön. Ein wenig „angeschäkert“, deshalb wird der Tiefenrausch zuweilen auch als „Martini-Effekt“ bezeichnet. Meistens geht es bei einem Tiefenrausch in diesem Ausmaß darum: Fühlt es sich noch gut an, kann man noch angemessen reagieren? Dann kann man ihn genießen. Fühlt es sich unangenehm an? Dann halt ab nach oben.

„Wah-Wah“: Etwas ganz anderes ist der ernsthafte, oft schwere Tiefenrausch, der eine potentiell tödliche Handlungsunfähigkeit einleiten kann. Dieser ist in Tiefen, die man heute noch mit Luft betauchen würde, extrem unwahrscheinlich – aber es gibt Berichte darüber.

 

Leider sind die einzelnen Erscheinungsformen nicht klar voneinander zu trennen. Ein eigentlich recht angenehmer Rausch kann plötzlich umschlagen – ob, wann und warum das passiert, ist nicht klar. Darin liegt eine der Gefahren: Wenn man sich in der angenehmen leichten Euphorie zu sicher fühlt, kann es sein, dass man den richtigen Moment für den Aufstieg einfach verpasst.

Der Tiefenrausch im Sporttauchbereich bis 40m stellt normalerweise eine Mischung aus der Tatsache, dass man unter Wasser ist, und dem Einfluss des Stickstoffs dar. Er ist üblicherweise das, was die Tiefe bei Tauchgängen mit Luft begrenzt. Diese Grenze ist das wichtigste Thema um schwerwiegendere Auswirkungen zu vermeiden, aber um diese zu verstehen, lohnt der Blick auf das, was passiert, wenn man noch höheren Drücken ausgesetzt ist.

Symptome des Tiefenrauschs

 Was ist es im Einzelnen, an dem man einen Tiefenrausch erkennen kann? Jeder Tiefenrausch ist anders, aber es gibt dennoch einige Wahrnehmungen, die sich wiederholen.

Dabei reden wir hier nicht von einer Kette von Symptomen, die sich steigern, aber in einer vorhersehbaren Reihenfolge auftreten – jedes einzelne davon kann ganz plötzlich und ohne Vorwarnung einsetzen.

Konzentrationsschwierigkeiten: Was an Land noch selbstverständlich erscheint, ist unter Wasser kompliziert. Das merken viele schon beim Schnuppertauchen, manche erst später – aber Menschen sind nun mal für das Denken an Land optimiert. Unter Wasser leidet das etwas, und wirklich schlaue Leute können sich plötzlich an einfache Dinge nicht mehr erinnern.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Aufmerksamkeit unter Wasser nachlässt. In messbarer Weise: Eine der “Tiefenrausch” – Studien bespricht eigentlich genau dieses Phänomen (die „Flachnarkose-Studie“, von der später noch die Rede sein wird).

Leichte Euphorie: Hast du schon mal erlebt, dass alles, was auf 20m noch etwas gezwickt hat, auf 30m völlig ok und auf 40 schon gar nicht mehr da war? Warst du schon mal so glücklich und zufrieden da unten, dass du eigentlich nicht auftauchen wolltest? Hattest du schon mal das Gefühl, dass dieser Tauchgang wirklich ganz besonders schön ist – du aber leider schon wieder vergessen hast, wie viel Luft du noch hast? Obwohl du eben geschaut hast?

Dann hattest du einen leichten Tiefenrausch. Das erste Zeichen dessen, was wir “Rausch” nennen und nicht nur “unter Wasser sein”, ist diese Leichtigkeit, diese sanfte Euphorie.

Starke Euphorie: Irgendwann ist alles so richtig schön, die Farben besonders intensiv, und dieser leise Gesang in den Ohren…. Manche verhalten sich sichtbar irrational, achten nicht mehr auf Grenzen oder ihren Buddy, sind also nicht mehr dieselben Taucher wie sonst. Wenn in diesem Zustand etwas passiert, kann es sein, dass die Problemlösungskompetenz deutlich eingeschränkt ist.

Wenn man das Gefühl hat, jetzt immer bleiben zu wollen, muss man hoch. Jetzt. Sofort.

Angst: Der nächste Schritt ist nämlich Angst, hin zu leicht psychotischen Zuständen. Musik, Töne, der Weg nach oben wird unendlich lang, man möchte jetzt wirklich wieder hoch…. Soweit kann es kommen, wenn man nicht bei den ersten Anzeichen schon auftaucht, sondern immer doch noch ein wenig weiter möchte. Bis zu einem gewissen Grad haben das viele Taucher schon erlebt, vor allem “früher”, als es Trimix schlicht noch nicht gab.

„Wah-Wah“: Wenn die Tiefe wirklich nur noch zu tief ist, alles rauscht, und man weiß danach gar nicht mehr, wie man wieder oben angekommen ist – dann ist man dem „Wah-Wah“ begegnet. Diesen Begriff hat Bob Raimo in einem sehr persönlichen Bericht geprägt, der ausgesprochen lesenswert ist.

Absence: Ganz vereinzelt gibt es Berichte darüber, dass Taucher für einen Moment wirklich „abwesend“ sind. Sie bekommen nichts mehr mit, sind zwar nicht bewusstlos, können aber auch wirklich gar nichts mehr machen. Bekannt ist das nur aus Erzählungen, eine wissenschaftliche Erklärung fehlt – aber immerhin hat der legendäre Sheck Exley darüber berichtet, und ein paar andere auch.

 

Blockierte Synapsen

Man weiß einiges darüber, wie sich ein Tiefenrausch anfühlt und welche Symptome mit ihm verbunden sind. Weniger klar ist, wie genau er eigentlich zustande kommt.

Der Tiefenrausch ist wahrscheinlich ein Problem der Informationsübertragung. Einerseits spielen in unserem Nervensystem dabei elektrische Impulse eine Rolle. Etwas sehr Spannendes passiert aber an den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, den sogenannten Synapsen. Hier muss zwischen den Zellen eine schmale Lücke, der sogenannte  synaptische Spalt, überbrückt werden. An dieser Stelle ist die chemische Signalübertragung mit speziellen Stoffen, den Neurotransmittern, die jeweils passende „Andockplätze“ (Rezeptoren) haben, besonders wichtig. Wenn dieses System der Informationsübertragung gestört wird, durcheinanderkommt, und z.B. der Fluss von Neurotransmittern sich verändert, werden Informationen nicht mehr korrekt übertragen. Das scheint der Stickstoff unter hohem Druck zu bewirken.

 

Zeichnung einer Synapse

Woran das genau liegt, ist nicht abschließend geklärt. Man weiß aus Studien über Narkosegase aus der Medizin, dass es eine Korrelation zwischen Fettlöslichkeit und Narkosewirkung von Gasen gibt, die Meyer-Overton-Korrelation. Diejenigen Gase die bereits bei niedrigen Drücken narkotisierend wirken sind tendenziell in Fett gut löslich. Ein darauf basierender Erklärungsansatz für die Narkosewirkung ist folglich bekannt als Meyer-Overton-Hypothese: Demzufolge wäre die narkotische Wirkung von Gasen an ihre Fettlöslichkeit geknüpft.

Was könnte der Zusammenhang sein? Die Nervenzellen und damit auch die Verbindungen dazwischen, die Synapsen, sind von fetthaltigen Schichten umgeben. Wenn sich in diesen Bereichen gelöstes Gas anreichert, dann könnte das diese Schichten ausreichend verändern um die Signalübertragung stören.

Obwohl diese Hypothese heute als veraltet gilt und man zumindest davon ausgehen muss, dass es weitere Faktoren neben der Fettlöslichkeit gibt, kann dieser Mechanismus durchaus eine Rolle spielen. Man geht heute aber davon aus, dass weitere komplexere Abläufe gezielt verschiedene Rezeptoren betreffen und die Signalübertragung auf unterschiedlichen Wegen verändern. Eine ausreichende Löslichkeit in Fettgewebe wäre damit zwar eine Art Vorbedingung dafür, dass ein Gas narkotisch wirken kann, was somit die Meyer-Overton-Korrelation erklärt, aber eben für sich alleine noch keine Garantie für eine Narkosewirkung des Gases.

Nachweisbar sind zum Beispiel Veränderungen im Dopamin-Level (Dopamin ist einer der Neurotransmitter) bei Ratten, und eine Reihe an Forschungsansätzen beschäftigen sich damit, die genauen Wege nachzuvollziehen, auf denen Stickstoff Einfluss haben kann. Einige Ideen kommen dabei aus dem Wissen über Narkosegase, und Ergebnisse können für die Anästhesie interessant sein, deshalb wird in dieser Richtung durchaus geforscht.

Eine wirklich klare, einfache und eindeutige Erklärung hat bis heute aber niemand gefunden, so dass die Stickstoffnarkose nach wie vor nicht abschießend erklärt werden kann. Wir müssen uns also mit dem zufrieden geben, was sich beobachten lässt und die Hirnchemie erst einmal  als Rätsel stehen lassen.

 

The Meyer Overton Hypothesis
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